Zum Grundgesetz habe ich schon lange sehr starke Gefühle. Ende 1992, nachdem Nazis die rassistischen Pogrome in Rostock-Lichtenhagen angezetteltet hatten, und kurz bevor ein Haus mit Migranten in Mölln angezündet wurde, kurz bevor Rechtsextreme den linken Hausbesetzer Silvio Meier in Berlin erstachen – in dieser Zeit also riefen die großen Parteien zur großen Demo gegen Rechts unter dem Motto „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Zeitgleich bereiteten die gleichen Parteien die faktische Abschaffung des im Grundgesetz festgeschriebenen Asylrechts vor, die dann 1993 umgesetzt wurde.
Mit Freunden aus der damaligen Hausbesetzerszene hatte ich lange diskutiert, ob wir dahin gehen können. Und wenn ja wie? Wir traten schließlich als „Verfassungsschutz von unten“ auf, der sich um drei Stelzenläufer gruppierte, die das Paragrafenzeichen, eine 1 und eine 6 auf ihren Köpfen balancierten: den Artikel 16, der das Asylrecht beinhaltete. „Die Artikel des Grundgesetzes wurden vorgetragen wie Losungen zum Barrikadenstrum“, hieß in einer Reportage der Zeit über die Großdemo.
Es ist ein für mich im Kopf gebliebenes Bild, das sich immer wieder nach vorne drängt.
In der wochentaz-Ausgabe, die vor dem 75-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes erschien, durfte ich in der Kolumne „Starke Gefühle“ meine Beziehung zum Grundgesetz aufschreiben. Es ist für mich Gesetz gewordenen Poesie – leider in Teilen verhunzt durch spätere Ergänzungen. Die unerträglichste davon die Änderung des Grundgesetzes von 1993.