Das wird ein historischer Abend. Wenn am Sonntag nach 18 Uhr die Wahlergebnissse über die Bildschirme flimmern, wird die Union laut allen Umfragen ihr mit Abstand schlechtestes Ergebnis aller Zeiten einfahren, die Grünen hingegen werden ihren Stimmenateil in etwa verdoppeln und damit so stark wie nie zuvor. Die SPD wird von den Toten auferstehen, so dass erste bereits vom Beginn eines sozialdemokratischen Jahrzehnts reden. Dazu eine AfD, die erstmals bei einer Bundestagswahl Stimmen verlieren dürfte. Nur bei FDP und Linkspartei wird es wie immer sein. Erstere wird stark bleiben, weil die Union schwächelt. Zweitere bleibt schwach, weil Linkswählen in Deutschland noch immer verpönt ist.
Wirklich neu aber ist etwas anderes: es wird zwar ein Ergebnis geben, aber es wird dennoch vollkommen unklar bleiben, wie die nächste Regierung aussehen könnte. Vier, vielleicht sogar fünf Koalitionen, die tatsächlich auch politisch denkbar wären, werden eine rechnerische Mehrheit haben. Sie könnten also regieren, wenn sie sich denn zusammenraufen würden.
Lange vorbei sind die Zeiten, in denen mit SPD und Union zwei große Volksparteien um Platz 1 ringen und sich dann einen kleineren Partner für eine Koalition suchen können. Vorbei sind damit auch die Zeiten, in denen man aus einem Wahlergebnis einen ominösen Wählerwillen ablesen könnte. Wenn von Rot-Grün-Rot über die Ampel und Jamaica bis hin zur Groko alles möglich bleibt, ist das nicht nur demokratietheoretisch schwierig, sondern auch ganz praktisch.
Denn es gibt in Deutschland anders als in anderen Staaten keine zeitliche Befristung für eine Regierungsbildung, es bekommt ja nichtmal irgendwer vom Staatsoberhaupt den Auftrag eine Regierung zu bilden. Hierzulande wird üblicherweise erstmal ein wenig sondiert, wer mit wem sich was vorstellen könnte – und dann beginnen die Verhandlungen über eine Koalition. Über eine, genau das ist das Problem.
Denn das hat sich schon nach der letzten Bundestagswahl 2017 als schwierig erwiesen, als FDP-Chef Christian Lindner nach wochenlangen Gezerre zwischen Union, Grünen und FDP keinen Bock mehr hatte. Damals aber gab es zum Jamaika-Bündnis nur eine rechnischer Alternative: die Große Koalition, die dann auch wieder zum Zuge kam.
Was aber, wenn diesmal nicht nur ein Anlauf scheitert, sondern zwei? Oder gar drei? Das ist nicht unwahrscheinlich. Immerhin können fast alle Beteiligten stets damit drohen, die Verhandlungen platzen zu lassen, weil sie sich auch anderer Partner suchen könnten.
Auf die Tube drücken
Angesichts dieses Regierungsbildungsdilemmas bleibt eigentlich nur eine Option: gehörig auf die Tube drücken! Mit parallelen Koalitionsverhandlungen so schnell wie möglich nach der Wahl.
Und das soll gehen? Ja, warum denn nicht! Motor dabei könnten, ja müssten die Grünen sein. Sie haben als faktische Wahlgewinner:innen nicht nur die Power dazu, es liegt auch in ihrem Interesse. Sie wären in drei der möglichen Dreierkoalitionen ein stilbildendes Element. Und sie wären schön blöd, wenn sie diesen Trumpf aus der Hand geben würden, indem sie sich auf die Verhandlung von einem der drei Bündnisse beschränken würden.
Wenn sich die Grünen ernst nehmen, wäre es sogar nahezu ein Pflicht, dass sie von ihren möglichen Koalitionspartnern parallele Verhandlungen einfordern. Sie haben zurecht die längst laufende Klimaerhitzung ganz oben auf die Agenda gesetzt. Da drängelt nicht nur die Zeit, da muss auch aufs Schärfste ausgelotet werden, was in Deutschland noch geht, um das im Paris-Abkommen vereinbarte 1,5-Grad-Ziel nicht komplett aus dem Auge zu verlieren.
Was tatsächlich geht, werden die Grünen – und ihre Wähler:innen – nur herausfinden, wenn am Ende komplett ausgehandelte Koalitionsoptionen auf dem Tisch liegen. Und sie dann entscheiden können, welchen Weg sie gehen. Das ist schon eine Frage der Verantwortung.
Eine Option für alle Parteien
Warum die anderen Parteien bei so einem aufwändigen Verfahren mitmachen sollten? Weil es auch SPD, Union und FDP die Option offen lässt, verschiedene Wege zu gehen. Und der Linkspartei die Tür zu einer möglichen Regierungsbeteilung wenigstens einen Spalt weit offen lässt.
Und weil ein historisch einmaliges Wahlergebnis eben neues Denken erfordert. Aber neues Denken? Das Verlassen ausgetretener Pfade? Kreativität beim Regieren? Zugegeben, es klingt nicht sehr wahrscheinlich, dass sich die Parteien zu diesem eigentlich dringend notwendigen Verfahren durchringen können.
Und so scheint derzeit nur eins sicher: mangels einer bis dahin gewählten Nachfolger:in wird Angela Merkel auch noch am 18. Dezember im Amt sein und damit den Langzeitverweilrekord mit 5.869 Tagen von Helmut Kohl brechen. Noch so eine historische Zahl. Helmut Kohl stand bekanntermaßen fürs „Aussitzen“. Nichts ist heute unangebrachter angesichts der Lage der Welt.
Gereon Asmuth ist taz-Redakteur und gibt hier auf diesem Blog gelegentlich seinen Senf dazu zum politischen Geschehen.