Wir hatten eine spezielle Beziehung. Erinnerung an Harry. Von seinem einstigen Zivi.

Folgenden Text habe ich mal nicht für die taz geschrieben, sondern einfach nur auf Facebook. Es geht um Harry, für den ich mit Anfang 20 als Zivildienstleistender gearbeitet habe, weil er im Rollstuhl saß. Über eine Notiz auf seiner Facebook-Seite hatte ich erfahren, dass er gestorben ist. Das Foto zeigt uns beide zum Auftakt der Reise an Pfingsten 1988. 

Ein Freund von mir hat heute Geburtstag. Genauer gesagt: wahrscheinlich ist Freund übertrieben. Und er hat auch nicht Geburtstag, er hätte nur. Letztes Jahr habe ich ihm noch auf Facebook gratuliert. Ein anderer seiner Freunde schrieb am gleichen Tag auf seine Seite, dass er an ihn denke. Und setzte ein R.I.P. dazu. Ich habe ein wenig gebraucht, bis ich irgendwo im Netz den Hinweis gefunden habe, dass er tatsächlich kurz vorher gestorben war. Am Donnerstag wäre er 57 geworden.
Wir hatten eine spezielle Beziehung. Mit Anfang 20 haben wir heftig zusammen gefeiert, Pizza verschlungen und sind nachts betrunken in einem Graben gelandet. Einmal sind wir zusammen mit einer ganzen Truppe aus dem Studentenwohnheim nach Spanien gefahren. Vor ein paar Jahren, als wir uns immerhin hier auf Facebook wieder gefunden haben, schrieb er mir, dass dies die einzige Reise seines Lebens geblieben sei. Wir hatten eine spezielle Beziehung.
Er studierte Wirtschaft, offiziell zumindest, ich sollte ihm dabei ein wenig unter die Arme greifen, weil ich auch schon ein paar Semester Wirtschaft hinter mir hatte. Jetzt war ich ein Jahr lang sein Zivi. Der Typ, der ihn morgens aus dem Bett holte, anzog, Frühstück machte, ihn in den Rollstuhl wuchtete, die Wäsche machte, ihn unter die Dusche schob, das Urinal richtete, die Abführzäpfchen verabreichte und den ganzen Scheiß wegräumte, wenn er dann fertig war. Und der ihn abends wieder ins Bett brachte. Manchmal nüchtern, manchmal nach durchzechten Nächten unten in der Wohnheimkneipe.
„Ärsche wischen für den Frieden“, war mein Projekt als Kriegsdienstverweigerer. Man kommt sich unweigerlich sehr nah bei so einer Arbeit, wenn man sich eine Woche lang von Montag früh bis Sonntagabend nahezu rund um die Uhr sieht. Wenn man nicht Distanz hält. Ich hielt sie nicht, ich konnte das nicht.
Zusammen besuchten wir seine Mutter, die weiter im Norden in einer Wohnung im ersten Stock wohnte. Ohne Aufzug. Sie hätte ihn niemals allein da hochbekommen.
Zusammen redeten wir wie junge Männer über die Frauen, die wir toll fanden. Und ich ertrug seinen Frust, dass sich bei ihm alles nur im Bereich der Phantasie abspielte. Als „Quattro“, als junger Mann, der die Beine gar nicht und Arme wie Hände nur eingeschränkt bewegen kann, hat man keine guten Karten bei der Partnersuche.
Er erzählte mir von den Vorstellungen, wie sein Leben wäre, wenn er nicht mit 16 kopfüber in diesen See gesprungen wäre. Er zeigte mir, wie er mit ausgeklügelten Hilfsmitteln selber Zigaretten drehen konnte, obwohl er die Finger nicht bewegen konnte. Ich hörte mir seine Träume an. Einmal erzählte er, dass er durch eine Tropfsteinhöhle gerollt sei, wo der Weg immer enger wurde, bis er nicht mehr weiterkam. Da sei er ausgestiegen, habe den Rollstuhl zusammengeklappt, durch die Enge geschoben und sich auf der anderen Seite wieder reingesetzt. Traumwelten eines Rollstuhlfahrers.
Und zusammen fuhren wir in den Urlaub. Wir hatten mit ein paar Leuten aus dem Wohnheim in der Kneipe gesessen, als eine Mitbewohnerin von ihrer Idee erzählte, an Pfingsten mit dieser ganzen Truppe nach Spanien zu fahren. Ich hatte gesagt, dass ich gern mitwollte, aber genau in der Woche arbeiten müsse. Harry betreuen. Kein Problem, sagte die Frau, dann nehmen wir Harry halt mit.
Also sagte ich: „Harry, an Pfingsten fahren wir nach Spanien“. Und er sagte: „Ja, klar!“ So wie er immer erst Ja gesagt hat zu meinen spinnerten Ideen. Meist hat er dann später einen Rückzieher gemacht, weil es ihm doch zu viel war. Weil er sich nicht wohl fühlte in fremder Umgebung. Weil er anderen auch nicht zur Last fallen wollte. Weil er unsicher war – verständlicherweise. Aber diesmal blieb er bei seinem Ja. Und so saßen wir wenig später in dem Panda meiner Eltern und fuhren durch bis an die Costa Brava.
Es ging alles gut. Der lange Harry saß sicher angeschnallt neben mir. Wir hörten Musik, rauchten, und erst als wir dann vom Campingplatz zum Strand fuhren, hat er sich in die Hose gemacht. Kein Problem. Ärsche wischen für den Frieden. Wir hatten eine gute Zeit.
Einer seiner Studiwohnheimnachbarn meinte danach, er habe hier beim Zelten erst mitbekommen, was man als Zivi so alles machen müsse. Dass es nicht nur ums Feiern, Witze machen und gemeinsame Fernsehen ging. Wie gesagt, wir hatten eine gute Zeit.
Mir war danach klar, dass ich nicht mein ganzes Leben lang in diesem Bereich arbeiten wollte, konnte. Das ich wahnsinnigen Respekt habe vor allen, die das dennoch tun, tun können. Harry war klar, dass das Wirtschaftsstudium, zu dem ihm irgendein Berufsberater geraten hatte, nichts für ihn war. Wir hatten es in dem einen Jahr zweimal zur Uni geschafft. Immer zu Semesterbeginn zur Rückmeldung. Er machte eine paar Umwege und landete schließlich wieder in seiner Heimatstadt – und arbeitete als Berater für andere Menschen mit Behinderung.
Erfahrungen weitergeben zu können ist eine der besten Erfahrungen, die man machen kann in diesem Leben. Und sei es nur die, dass es gut ist, einen Zweitrollstuhl zur Hand zu haben, wenn man nachts unten am See grillen will, weil man damit die Kiste Bier so gut transportieren kann. Und dass es sehr hilfreich ist, noch zwei angeschickerte Kumpel dabei zu haben, wenn man als Zivi mit dem Rollifahrer im Graben gelandet ist. Denn zu dritt bekommt man auch den längsten Lulatsch wieder zurück in seinen Stuhl. Und aus dem Malheur wird eine dieser Geschichten, die man Jahre später noch erzählt, weil sie von der exzessiven Freude am Leben handelt.
Wir haben uns nach dem Jahr nicht mehr oft gesehen. Gelegentlich geschrieben. Wahrscheinlich waren wir keine Freunde, trotz allem. Aber wir waren wichtig füreinander.
Harry, Danke für viele Erfahrungen, die ich mit Dir machen durfte. Ich denk an dich. Nicht nur heute an deinem Geburtstag.
Falls jemand mehr über Harry wissen will: Hier findet sich ein Text, in dem er selbst viel von seinem Leben erzählt.

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