Eine Hochzeit im goldenen Oktober, eine Morddrohung im Mai. Die Geschichte meiner Vormieterin Anna Anschel, deren Mann Max 1944 im KZ umgebracht wurde

Eine Hochzeit im goldenen Oktober

Der 8. Oktober 1927 war ein freundlicher Tag. Am Freitag hatte es noch geregnet in Berlin. Aber nun am Samstag zeigte sich die Sonne laut historischem Wetterbericht am leicht bewölkten Himmel über Berlin. Vielleicht war es ein wunderbarer Tag in den „Goldenen Zwanziger Jahren“ zum Heiraten. Genau das taten der Prokurist Max Anschel und seine Braut, die Stenotypistin Anna Eberhardt. Zusammen mit ihren Trauzeugen gaben sie sich im Standesamt IV b an der Böckhstraße in Kreuzberg das Ja-Wort.

Der Standesbeamte richtete an die Verlobten einzeln und nacheinander die Frage: ob sie die Ehe miteinander eingehen wollen. Die Verlobten bejahten diese Frage und der Standesbeamte sprach hierauf aus, daß sie kraft des Bürgerlichen Gesetzbuches nunmehr rechtmäßig verbundene Eheleute sind.“ So steht es auf der Urkunde zum „Aufgebotsverzeichnis Nr. 299“.

17 Jahre später war Max Anschel tot, 1944 wurde er ermordet im KZ Stutthof, weil er Jude war.

Seit Februar 2023 weiß ich von seinem Schicksal. Max Anschel hatte zuletzt in dem Haus gewohnt, in dem ich heute lebe. Ende April 2023 hatte ich – an seinem 135. Geburtstag – erstmals über ihn und seine Familie geschrieben. Und getwittert.

(Wer den Text damals nicht gelesen hat, sollte ihn vielleicht zuerst lesen, bevor es hier weitergeht)

Als Folge davon erreichte mich eine Mail von Jutta Faehndrich. Sie beschäftigt sich beruflich Familienforschung für jüdische Menschen mit Wurzeln in Deutschland und hat mir schon kurz darauf die Hochzeitsurkunde von Max und Anna zukommen lassen. Und viele Infos mehr.

Auf der Urkunde sind auch die Trauzeugen des Paars vermerkt. Zum einen offenbar der Vater von Anna, Heinrich Eberhardt. Zum anderen der Ingenieur Adolf Anschel, 42 Jahr alt, aus „Crefeld“. Es ist ein weiteres Puzzlestück in der Geschichte der Familie Anschel. Denn es bestätigt, dass Adolf wie bereits vermutet, tatsächlich der Bruder von Max war. Und es führt mich bei meinen weiteren Recherchen erstmal weit weg von Berlin weiter in die verzweigte Familie der Anschels – bis nach Holland reicht.

Von Krefeld über Holland nach Auschwitz

Auch Adolf Anschel wurde durch die Nazis ermordet. Er wurde im August 1942 nach Auschwitz deportiert und später für tot erklärt. In der Datenbank der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem findet sich ein Foto von ihm.

Der Vater von Adolf und Max hieß Albert. Spuren seines Lebensweges finden sich in den Akten des Krefelder Stadtarchivs. Das erfahre ich aus einer Mail von Fabian Schmidt, der dort die Meldekarten für mich durchforstet hat.

Albert Anschel hatte 1883 seine Frau Laura Hasendahl geheiratet. Nach der Geburt der Söhne Adolf und Max in Schermbeck am Niederrhein zogen sie nach Krefeld. Dort wohnte die Familie bis 1905 zunächst am Alexanderplatz 3. Die Adresse klingt, als wenn sie der späteren Berliner Geschichte von Max vorgreifen würde. Doch das täuscht. Ein Blick auf Google Maps zeigt: Der Krefelder Platz ist anders als seine Berliner Namensvetter nur eine kleine Grünfläche, umstellt von schmalen, dreistöckigen Bürgerhäusern. Dafür zeigt Google Maps noch ein anderes Detail: nur zwei Häuser weiter verbrachte gut 15 Jahre später im Jahr 1921 Joseph Beuys seine ersten Lebensmonate, der später als Max Anschel schon in Auschwitz inhaftiert war, mit einem Flugzeug der Luftwaffe über der Krim abstürzte. Und der noch viel später sich als Künstler einen Namen machte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Kurz nach dem Tod seiner Frau Laura im Jahr 1912 verließ Albert Anschel Krefeld – und zog laut Meldekarten für ein paar Jahre nach Zütphen in Holland. Das hat einen einfach Grund.

Eine zeitlang hatte Sophie, eine Nichte von Albert als Schülerin mit den Anschels in Krefleld gelebt. Sie hatte zwei Schwestern – Hedwig und Henriette, die mit ihren holländischen Ehemännern David Snatager beziehungsweise Joseph Frankfort in Zütphen lebten.

All diese familiären Verknüpfungen erfährt man schnell über gut geführte holländische Webseiten wie joodsmonument.nl oder stolpersteinezutphen.nl. Von Hedwig Snatager-Anschel und ihrem Mann David Snatager findet man dort sogar Fotos.

Man erfährt viel über das traurige Schicksal der Familie – und die grauenhafte Radikalität, mit der das nationalssozialistische Deutschland die Ermordung der Juden betriebt.

Hedwig und David Snatager wurden wie ihre Töchter Flora und Henriette 1942 in Auschwitz ermordet.

Henriette und Joseph Frankfort wurden wie ihre Kinder Emanuel und Brunetta in Auschwitz getötet.

Die Schwester von Joseph Frankfort starb in Auschwitz, ihre Mutter in Sobibor.

David Snatager hatte noch mindestens zwei Geschwister, die teils mit ihren Familien in Konzentrationslagern um Leben kamen.

Je mehr man über die Geschichte dieser jüdischen Familie weiß, desto öfter endet sie mit Ermordung.

Stammbaum der Familie Anschel
Stammbaum der Familie Anschel

Dank der Digitalisierung lassen sich diese Geschichten heute leicht recherchieren. Es bietet die Chance, dass sie unvergessen bleiben.

Die gnadenlose Kirche gegenüber

Zurück nach Berlin. In der Kantine der taz treffe ich beim Mittagessen meinen Kollegen Ulrich Gutmair. Wir reden erst ein wenig über sein neues Buch „Wir sind die Türken von morgen“, in dem er über New Wave und Punk im Deutschland der 80er Jahre geschrieben hat, unter anderem über eine Punkband aus Hannover, die sich „Deutschland“ nannte und mit nur einem einzigen Konzert für Furore sorgte.

Als ich umgekehrt über meine Recherchen zu Max Anschel erzähle, erinnert er mich an eine Passage aus seinem ersten Buch „Die ersten Tage von Berlin“: Darin beschreibt er die Nazi-Geschichte der Elisabethkirche, die schräg gegenüber vom Wohnhaus der Anschels steht.

Die Kirche war 1835 in der Rosenthaler Vorstand nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel gebaut worden. Sie hat keinen Turm und ähnelt einem römischen Tempel. Die dazugehörige evangelische Gemeinde, schreibt Uli, habe schon zur Hundertjahrfeier 1935 „über beste Verbindungen zu den neuen Machthabern“ verfügt. So wie in den meisten Gemeinderäte waren auch hier die „Deutschen Christen“ gegenüber Mitgliedern der bekennenden Kirche in der Mehrheit. Sie hätten mit Eifer den Ausschluss von Christen jüdischer Abstammung betrieben und 1935 beschlossen, „Judentaufen“ zu untersagen.

Das traf auch die Familie von Ingrid Kropidlowski, die ganz in der Nähe in der Strelitzer Straße gewohnt hatte. Ihr Vater war ein evangelischer Autoelektriker, ihre Mutter stammt aus einer jüdischen Familie. Deshalb verweigerten die Pfarrer der Elisabethkirche 1941 dem Kind die Taufe. Das Mädchen wurde stattdessen in der benachbarten Versöhnungsgemeinde getauft, die viel später weltberühmt wurde, weil deren Kirche ab 1961 Mitten im gesperrten Mauerstreifen stand – bis sie 1985 auf Weisung des DDR-Regimes gesprengt wurde. Heute ist dort – auch weil sich ihr Pfarrer Manfred Fischer in der Wendezeit für den Erhalt eines Stückes der Mauer eingesetzt hatte – die Gedenkstätte Berliner Mauer und mittendrin eine neue, kleine Kapelle. Aber das ist eine andere Geschichte.

Weiter unten in der Strelitzer Straße finden sich auf dem Bürgersteig Stolpersteine, die an Ingrid Kropidlowski und ihre Mutter Ruth erinnern. Sie waren 1943 nach Theresienstadt deportiert worden.

In Ulis 2013 erschienenem Buch hieß es noch, vor der Elisabethkirche stehe nur eine Tafel, „auf der über die Aktivitäten der Kirche von Unten berichtet wird“ – also über den Widerstand gegen das DDR-Regime in den 80er Jahren. Im Internet wird die Nazi-Geschichte der Kirche bis heute nicht erwähnt.

Aber immerhin zeigt sich heute die Infotafel vor der Kirche etwas ehrlicher. „In St. Elisabeth herrschten die DC (Deutsche Christen) unter Pfarre Bethke uneingeschränkt“, heißt es dort. „Alle kirchlichen Mitarbeiter beteiligten sich zu 100 % an den Veranstaltung der NSDAP.“ Die Wiedereinweihung der Kirche nach der Renovierung 1936 sei unter wehenden Hakenkreuzfahnen und Lobsprüchen auf den Führer Adolf Hitler erfolgt. Vor der Reichstagswahl im März 1936 habe vor den Säulen am Eingang der Kirche ein Spruchband gehangen, auf dem stand: „Daß wir unser Kirche erneuern, verdanken wir dem Führer!“

Erinnerungstafel auf dem Gelände der Elisabethkirche. Erinnerungstafel auf dem Gelände der Elisabethkirche.

 

Auf einem ebenfalls abgebildeten Foto von dem Spruchband ist auch die Inschrift am Kirchenportal darüber zu sehen: „Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit“ steht dort. Zum Glück war auch diese Ewigkeit begrenz. Am 8. März 1945 wurde die Kirche bei einem Bombenangriff weitgehend zerstört. Jahrzehntelang blieb nur eine Ruine. Heute wird die behutsam wiedererrichte Kirche vor allem für kulturelle Veranstaltungen genutzt. Am Portal steht nichts mehr.

An dem Spruchband aber werden 1936 auch Max, Anna und Ruth Anschel vorbeigelaufen sein. Sie wohnten ja gleich ums Eck in der Bergstraße. Und sie zogen, wie ich erst viel später erfahren werde, just in dem Jahr als das Nazi-Banner vor Kirche hing, in die Straße direkt daneben.

Genau dort, wo fast 80 Jahre zuvor Adolf Hitler gehuldigt wurde, bietet sich im Herbst 2023 zum Glück ein ganz anderes Bild. Im Garten vor der Kirche feiern Anfang Dezember Hunderte Menschen Chanukka, das jüdische Lichterfest. Es war eine Kooperation der evangelischen Gemeinde mit Kahal Adass Jisroel. Die kleine orthodoxe Gemeinde hat ihre Synagoge samt Schule, Kita und weiteren Einrichtung keine 300 Meter entfernt an der Brunnenstraße. Mitte Oktober, kurz nach dem Überfall der Hamas auf Israel, hatten Unbekannte nachts zwei Brandsätze auf das Gemeindehaus geworfen, es zum Glück aber verfehlt. Seither steht vor dem Gemeindehaus nicht mehr nur eine Posten mit zwei Polizisten. Das ganze Haus samt Bürgersteig davor ist mit Absperrgittern gesichert. Eine räumliche Annäherung nicht mehr möglich.

Wir wollen nicht in einem Bunker leben, uns nicht hinter Mauern verstecken“, sagte Pasah Lyubarski, vom Vorstand der Gemeinde, „sondern mit unseren Nachbarn gemeinsam Chanukka feiern.“ Denn alle zusammen seien ein aktiver, sichtbarer Teil der Zivilgesellschaft im Kiez.

"Happy Chanukka"-Ballons am Zaun der Elisabethkirche
„Happy Chanukka“-Ballons am Zaun der Elisabethkirche im Dezember 2023

Das katholische Hilfswerk

Zurück zur Geschichte der Familie Anschel führen mich sehr eindrucksvolle Akten, die ich im Diözesanarchiv einsehen kann. Es liegt etwas versteckt in einem Gebäude unweit des Mariannenplatzes in Kreuzberg, nur wenige Meter vom einstigen Grenzstreifen, auf dem die Mauer Berlin bis 1989 geteilt hatte. Dort werden Dokumente aus kirchlichen Institutionen aufbewahrt – auch die des katholische Hilfswerk, das allein eine Geschichte wert ist.

Das „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“, so sein offizieller Titel, war im Sommer 1938 gegründet worden, um den so genannten „katholischen Juden“ oder „katholischen Nichtariern“ zu helfen – also Menschen, die entweder selbst oder deren Eltern vom jüdischen zum katholischen Glauben konvertiert waren, die nun von den Nationalsozialisten aber als „nichtarisch“ eingestuft, diskriminiert und verfoltg wurden.

Seinen ersten Sitz hatte das Hilfswerk im damaligen Wohlfahrtshaus an der Oranienburger Str. 13/14, direkt gegenüber des Monbijouparks. Weil der NS-nahe Hauseigentümer bald schon keine Sprechstunden des Hilfswerkes duldete, zog es bereits im April 1939 an die Schönhauser Allee 182 auf das Grundstück der dortigen Herz-Jesu-Gemeinde. Die wesentlichen Informationen zum Hilfswerk finde ich in der Broschüre mit dem Titel „unter Einsatz des Lebens“, in dem 1988 die ungewöhnliche Arbeit der kirchlichen Institution geschildert wurde.

Gegeben hat sie mir Dr. Gotthard Klein, der heutige Leiter des Diözesanarchivs. Klein ist ein freundlicher Mann, der mich mit kurzärmeligem Hemd in seinem sommerlichen Büro empfängt. Eine der Wände ist komplett mit einem deckenhohen Bücherregal gefüllt. Das würden seine Kinder und Enkel wohl nicht mehr nutzen, gibt Klein nach einem langem Gespräch über die wachsende Digitalisierung von historischen Akten zu, die ich sehr befürworte. Denn ohne den leichten Zugang zu solchen Informationen würde es diese Geschichte hier gar nicht geben. Und die leichte Auffindbarkeit von Originaldokumenten, so mein Argument, würde zum Beispiel auch Schüler:innen den Zugang zur Geschichte erleichtern, die mit der Recherche auf dem Smartphone groß werden. Klein ist nicht ganz so angetan. Denn um die Dokumente zu verstehen, brauche es vielfach immer noch Einordnung. Und die könnten nur Archivare wie er liefern.

Mir hilft er mit seiner Einordnung jedenfalls weiter. Klein erzählt, dass es in den 1930er Jahren ingesamt drei solcher Hilfsorganisationen für von den Nazis verfolgte Juden gab. Eine von der evangelischen Kirche, die sich vor allem um „protestantische Juden“ sorgte. Eine von US-amerikanischen Quäkern. Und eben das katholische Hilfswerk. Dessen prägende Figur war Margarete Sommer, die das Hilfswerk ab 1941 leitete.

Die promovierte Volkswirtin war zunächst Dozentin an der Sozialen Frauenschule der Alice Salomon in der Stadt – und schon dort geriet sie 1934 mit den NS-Machthabern in Konflikt, weil sie sich weigerte, im Unterricht Nazigesetze zu loben, die Zwangssterilisierungen behinderter Menschen vorsahen. Deshalb wurde sie gekündigt, schrieb Phillip Gessler 2003 in einem kurzen Portrait über Margarete Sommer, als sie von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vaschem in Jerusalem posthum als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt wurde.

Anfangs bemühte sie sich vor allem, Menschen bei der Ausreise, also bei der Flucht aus Deutschland zu unterstützen – allerdings häufig vergeblich. So berichtet Sommer 1946 von ihren letztlich vergeblichen Bemühungen Visa für 3.000 Menschen zur Einreise in Brasilien zu bekommen. Das Anliegen sei von Monat zu Monat verzögert worden, bis schließlich durch das im Herbst 1941 von der deutschen Regierung erlassene Auswanderungsverbot endgültig scheiterte. Tatsächlich gebe es Anhaltspunkte, dass die „Brasilaktion“ „an der ablehnenden Haltung brasilianischer Diplomaten in Berlin und Hamburg“ gescheitert sei, wird Sommer in der Broschüre zitiert.

Erfolgreicher war der Hilfswerk mit der Organisation sogenannter Kinderverschickungen. Im Februar 1939 startet ein Transport mit etwa 150 jüdischen Kindern nach England. Unter ihnen war der damals 16-jährige Horst Brasch, der in Bournemouth Unterkunft fand. Nach dem Krieg wurde Brasch in der DDR Mitglied im Zentralkomitee der SED und stellvertretender Kulturministerin. Sein Sohn Thomas Brasch wurde Schriftsteller und Filmemacher und 1976 nach seiner Ausreise aus der DDR in den Westen die literarische Stimme der aufbegehrenden Nachkriegskinder ostdeutscher Herkunft. Seine Tochter Marion Brasch wurde bekannt als Radiomoderatorin. In ihrem Roman „Ab jetzt ist Ruhe“ hat sie von der Geschichte ihrer Familie erzählt.

Die liebenswerte, tapfere und sehr lebhafte Frau

Anna Anschel hat sich offenbar erst 1946, also nach Kriegsende, an das katholische Hilfswerk gewendet. Jedenfalls stammen die ersten Unterlagen des Diözesanarchivs zur Familie Anschel aus dem Jahr.

Am 29. März 1946 schreibt Elisabeth Küstermeier einen Brief an die Leiterin des Hilfswerks, Frau Dr. Sommer. Es gehe um den „Fall der Frau Anschel“, den sie „sehr gern der seelsorgerischen Betreuung des Hilfswerks überweisen möchte“, schreibt Küstermeier. Anschel sei die Witwe „eines in Auschwitz verschollenen mosaischen Nichtariers“. Sie sei wie ihre 15-jährige Tochter katholisch getauft, habe aber zu ihrer Gemeinde „keine oder höchstens nur eine ganz lose Verbindung“.

Dann beschreibt sie Anna Anschel als „liebenswerte, tapfere und sehr lebhafte Frau“, die nur ganz schwer über den Verlust des Mannes weg finde und „auch kaum Hilfe an der mit einem viel stilleren Naturell begabten Tochter“ finde.

Es sind diese Sätze, die mir Anna und Ruth Anschel erstmals als Menschen nahe bringen, weit über all die Geburts- und Sterbedaten hinaus, die ich zuvor gefunden hatte.

In religiöser Hinsicht scheint sie mir Brachland zu sein“, schreibt Küstermeier weiter und bitte die „liebe Frau Doktor“ Frau Anschel „b a l d“ zu einer persönlichen Unterhaltung zu bitten, damit „gerade in diesem Fall dem Samen Gottes ein gutes Erdreich bereitet werden könnte“.

Zwei Wochen später lädt Dr. Sommer per Brief die „Sehr geehrte Frau Anschel“ zum Gespräch „über die Zukunftsaussichten Ihrer Tochter“. Die religiösen Bemühungen des Hilfswerks tragen schon bald Früchte. In einem weiteren Brief an Anna Anschel vom 24. Februar 1947 freut sich Sommer über die Mitteilung, „dass Ihre Ruth am 2.2.47 zur Ersten Heiligen Kommunion gegangen ist und dass die Mutter sie bei diesem Gang begleitet hat.“ Sie hoffe, „dass die nun mit dem Heiland eingegangene enge Verbindung sich nie wieder löst.“

Als Anna Anschel im September 1947 „nach Liebenthal zur Erholung“ fährt, sorgen sich die Mitarbeiterinnen des Hilfswerk um die Tochter Ruth. „Sie mag nicht anderswo essen gehen. Die Mutter hat gut vorgesorgt und die Tochter kocht gern für sich“, heißt es in einer letzten, handschriftlichen Notiz, die niedergeschrieben wurde, nachdem Ruth Anschel das Hilfswerk besucht hatte.

Ob sich Anna Anschel ursprünglich wegen religiösem Beistands an das Hilfswerk gewendet hatte, bleibt offen. Umso klarer wird ihr eigentliches Ziel in den Nachkriegsjahren: Sie will weg aus der Elisabethkirchstraße. Am liebsten ganz weit bis nach Amerika. Dafür hat sie allen Grund.

Repressionen, Boykott, Zwangsarbeit und Deportation

Denn der Korrespondenz des Hilfswerks ist auch ein Fragebogen des Magistrats der Stadt Berlin beigefügt, den Anna Anschel für eine „Statistische Erhebung vom 1. Februar 1946“ ausgefüllt hat.

Darin gibt sie nicht nur an, dass ihr Mann Max „Sternträger“ war und dass neben den mir bereits bekannten Verwandten auch noch seine Kusinen Julchen, Johanna, Nanny und Sally Meyer, sowie Kobes Wolf „im Zusammenhang mit den Maßnahmen des Naziregimes umgekommen“ sind, wie es im Formularvordruck heißt.

Anna Anschel beschreibt dort auch, welche Repressalien sie und ihr Mann schon seit Beginn des Nazi-Regimes erleiden mussten.

1933 drang S.A.. Sturm Stettiner Bahnhof in unsere Wohn- und Geschäftsräume“, heißt es in dem ausgefüllt Formular. Der Stettiner Bahnhof lag rund 700 westlich vom Wohnhaus der Anschels. Er war ein Sackbahnhof für Züge Richtung Ostseeküste und wurde im Krieg zerstört. Heute findet man auf dem Gelände nur noch die unterirdische S-Bahn-Station Nordbahnhof,

1938 Geschäftsboykott, aus den dabei befindlichen Privaträumen wurde auch noch geplündert“, berichtet Anna Anschel weiter. Ihren Mann habe sie „durch Herausgabe von Schmuck freibekommen“. Sie benötige nun dringend „Geschirr und Bestecke, da unser sämtlichen Bestecke gestohlen wurden (99 Teile Silber)“. Auch ihrem Kinde sei sämtliche Kleidung gestohlen worden.

In einer beigelegten ausführlichen Erklärung schildert Anna Anschel, die Situation im Jahr 1933, als sie und ihr Mann ihren Schokoladenhandel noch in der Bergstraße 17 hatten:

Bei uns kaufte ein Händler Willy Herz. Als er in unseren Geschäftsräumen war, erklärte er meinem Mann, ‚dass die Bäume in Deutschland nicht ausreichen würden, an denen die Juden aufgehängt werden.‘ Weil er mit einem Messer ein Hakenkreuz in die Platte des Abfertigungstisches geritzt habe, habe sie in ihrem Zorn dem Mann eine Backpfeife gegeben. Die Folge sei gewesen, „dass bei dem einige Tage später stattfindenden Judenboykott der S.A. Sturm, zu dem wohl dieser Herz gehörte, abends vor unseren Wohn- und Geschäftsräumen Aufstellung nahm“. Einig seien auch eingedrungen hätten rund 1.500 Mark Bargeld aus der Kasse, sowie Schmuck, darunter Brilliantohrringe – „Erbstück von der Mutter meines Mannes“ – und eine goldene Uhr genommen.“

Bis 1938 hätten sie das Geschäft „unter größten Schwierigkeiten weiter geführt“. Dann sei durch den großen Judenboykott „unsere Existenz erledigt“ worden. Erneut seien ihnen dabei Schmuck, Bilder, ein Nerzpelz, eine Mercedes-Schreibmaschine und vieles mehr entwendet worden. „Der Warenverlust beträgt ca. 12.000 M.“

In beigefügte Abschriften bestätigen ehemalige Geschäftspartner das Aus des Schokoladenhandelns in Folge der Pogromnacht. „Bei dem grossen Boykott, den die Nazi gegen die Juden angezettelt haben und alles in Trümmern schlugen, ist auch das Engrosgeschäft von Anschel erledigt worden. Das kann ich eidesstattliche versichern“, steht auf einem Schreiben von Marietta Glasser und Gertrud Bergmann unterzeichnetem Schreiben, die laut Stempel für Otto Bergmann, Vetreter der Zuckerwaren-Industrie in der Elisabtehkirchstr. 9 waren.

Mir sind alle Vorgänge bekannt und noch in unangenehmer Erinnerung“, schreibt Paul Kalz, Zigarrenhändler aus der Invalidenstraße 2 und stellt sich zur mündlichen Aussprache gern zur Verfügung.

Und eine Dora Jasse aus der Fehrbelliner Straße 4 bestätigt, dass sie Händlerin bei der Firma Anschel gewesen sei. Sie wisse dass nach dem „Judenbokott“ „Frau Anschel selbst als Händlerin ging, um sich ihren Lebensunterhalt für Mann und Kind zu verdienen.“ Das sei aber nur eine kurze Zeit möglich gewesen, „da ihr kein Engroshändler mehr Ware gab.“

Von 1938 an sei ihr Mann bis 1941 „als Jude“ arbeitslos gewesen, schreibt Anna Anschel weiter. Erst als „das Arbeitsamt Fontanepromenade für Juden“ eröffnet wurde, sei er als Arbeiter bei der Firma Scherb & Schwer in Weissensee „bei niedrigem Lohn“ eingesetzt worden.

Die Firma, heißt es bei einem Eintrag bei museum-digtital, sei von David Jaroslaw ursprünglich im 19. Jahrhundert in Breslau gegründet worden und 1906 nach Berlin-Weissensee umgezogen. Schon 1933 sei der jüdische Betrieb Jaroslaw in die Firma „Scherb & Schwer, vormals Jaroslaw“, später in
„Scherb & Schwer Kommanditgesellschaft umgewandelt
worden. „Der Schwiegersohn von Jaroslawl, Dr. Schröder, musste seinen Anteil an Scherb & Schwer verkaufen. Wenig später musste er eine hohe Summe zahlen, um mit seiner Familie und dem gesamten Mobiliar über Italien in die USA emigrieren zu können.“

Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges, sei der Betrieb auf Rüstungsproduktion umgestellt worden, heißt es weiter. „Ca. 1500 Arbeiter, darunter Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, waren bis Ende des Krieges dort beschäftigt.“ Auch auf der digitalen Karte der Webseite ns-zwangsarbeit.de ist die Firma „Elektro Glimmer und Preßwerke Scherb & Schwer KG“ zu finden. Dort habe es einen „geschlossenen Arbeitseinsatz deutscher Juden“ gegeben, zudem seien Kriegsgefangene aus der Sowjetunion, Polen und Italien eingesetzt worden.

Einer der Zwangsarbeiter war Max Anschel – bis Anfang 1943. Dann „erfolgte von dieser Firma aus die Massenverhaftung der Juden“, schreibt Anna Anschel. „Er sass 8 Tage lang von der Gestapo aus in der Rosenstraße.“

Die Fabrik-Aktion und die Rosenstraße

Damals gab es ein wohl recht einmaliges Ereignis im Nazi-Deutschland. Am letzten Samstag im Februar 1943 waren zunächst alle noch in Berliner Fabriken arbeitenden Juden festgenommen worden. Mit der so genannten „Fabrik-Aktion“ verfolgte Gestapo-Chef Hermann Goebbels das Ziel, Berlin “judenfrei“ zu machen. „Die SS trieb alle Juden, die in Fabriken Zwangsarbeit leisteten, zusammen und verschleppte sie in die Sammellager in der Levetzowstraße und in der Großen Hamburger Straße. Dort wurden die Häftlinge sortiert. Die »Mischlinge«, so bezeichnet, weil sie mit arischen Partnern verheiratet waren oder arische Elternteile hatten, transportierte man in die Rosenstraße 2-4“, schrieb Anja Seeliger 1992 zum 50. Jahrestag in der taz.

Gedenktafel in der Rosenstraße Gedenktafel in der Rosenstraße

 

Doch in der Rosenstraße, einer kleine Seitenstraße zwischen dem Alexanderplatz und dem Hackeschen Markt versammelten sich viele Ehefrauen der Inhaftierten. Sie versuchten sie mit Nahrung zu versorgen – und demonstrierten für die Freilassung der Männer, tagelang. Sie ließen sich offenbar auch nicht durch von der Gestapo aufgestellte Maschinengewehre beeindrucken.

Mahnmal in der Rosenstraße, das heute an die Fabrik-Aktion erinnert. Mahnmal in der Rosenstraße, das heute an die Fabrik-Aktion erinnert.

 

Rund 7.000 der bei der „Fabrik-Aktion“ Verhafteten wurden in den kommenden Tagen nach Auschwitz deportiert, nur die etwa 2.000 Juden aus „Mischehen“ wurden nach und nach entlassen. Wegen des Protests ihrer Angehörigen?, fragte Susanne Memarnia 2018 in der taz. Und antwortete sich selbst: Vermutlich nicht, sagen heute die meisten Historiker. Wahrscheinlicher ist, dass sie ohnehin nicht deportiert werden sollten, um die „arische“ Verwandtschaft zu schonen.

Im Vorwort zum Buch „Gedenkort Rosenstraße 2–4“ schrieb Andreas Nachama, geschäftsführender Direktor der Stiftung Topographie des Terrors: „Der Frauenprotest war singulär und ist deshalb von größter Bedeutung. Selbst wenn der Protest gescheitert wäre und die Verhafteten deportiert worden wären, gibt es in der zwölfjährigen NS-Geschichte kein vergleichbares Ereignis zivilen Protests einer größeren Gruppe in der Öffentlichkeit über mehrere Tage.“

In der Rosenstraße stand damals das Gebäude der Sozial-Verwaltung der Jüdischen Gemeinde. Dahinter stand in der Heidereutergasse die älteste Synagoge der Stadt, erfährt man auf eine Gedenktafel vor Ort. Sie wurde 1714 eingeweiht, 1942 war dort letztmalig ein Gottesdienst abgehalten worden. Von den damaligen Gebäuden ist heute nichts mehr zu sehen. Sie wurden im Krieg zerstört. Zwischen den zu DDR-Zeiten errichtenten Plattenbauten, die heute das Gelände umgeben, findet man eine mehrteilige Plastik der Bildhauerin Ingeborg Hunzinger. Sie zeigt in der Mitte die gefangenen Männer, drumherum die protestierenden Frauen. „Die Ehefrauen und Mütter gingen mit ihrem Protest ein hohes Risiko ein“, heißt es auf einem Erklärschild neben dem Denkmal. Denn seit 1941 habe bei „öffentlich gezeigten freundschaftlichen Beziehungen zu Juden“ bis zu drei Monate „Schutzhaft“ gedroht. Eine beeindruckende Geschichte, die im Jahr 2003 auch fürs Kino verfilmt wurde.

Und Teil dieser gut ausgehenden Geschichte waren also Max Anschel und seine Frau Anna.

Doch das Leid der Familie war damit keineswegs vorbei.

Nach der Inhaftierung wurde er wieder durch das Arbeitsamt Fontanepromenade bei der Firma Paul Kretschmar, Lichtenberg, Frankfurter Allee 124a, als Bauarbeiter für wenig Geld eingesetzt“, schreibt Anna Anschel in ihrem Bericht für das katholische Hilfswerk über ihren Mann, „bis es dann zu der weiteren Verhaftung kam. Sein Leidensweg ging bis nach Auschwitz, von wo er nicht zurückgekehrt ist“.

Wann und warum es zur erneuten Verhaftung kam, erklärt sie an dieser Stelle nicht. Dazu muss ich noch andere Unterlagen finden.

Läuse, Typhus und der bestochene Wachmann

1944 war Max Anschel zunächst im Reichsarbeitserziehungslager Wartenberg, schreibt Anna Anschel weiter. Sie habe „wie die anderen Frauen und Mütter“ sämtliche Lebensmittelmarken „bei dem Kaufmann Freud“ in der Brunnenstraße gegen Reisemarken eingetauscht, um ihren Mann dort zu versorgen.

Doch habe er dort „durch die entsetzlichen Läuse“ Flecktyphus bekommen und sei in ein Krankenhaus in Böhmisch Leipa verlegt worden. Sie sei sofort in die heute in Tschechien liegende Stadt gefahren, habe ihren Mann aber erst nach langem Bitten kurz am Fenster sehen dürfen. Vier Wochen später fuhr sie erneut nach Böhmisch Leipa und blieb diesmal drei Wochen. „Ich besuchte ih täglich heimlich. Alles freute sich, wenn ich kam. Es waren in dieser Baracke wenig Juden, viel Russen und Polen, die mich alle deckten.“

Wieder genesen kam Max Anschel ins Polizeigefängnis. Um ihm auch dort zu helfen, „machte ich mich dort mit den wachhabenden Polizeibeamten bekannt“; schreibt Anna Anschel weiter. Schließlich habe sie den Beamten Paul Engel gefunden, den sie „durch Geschenke, wie überteuerten Alkohol, Zigaretten und Geld bestach.“ So habe sie ihrem Mann laufend Lebensmittel, Briege und Rauchwaren überreichen können und der Beamte habe ihr „manchen lieben Gruß“ ihres Mannes übermittelt.

Dann kam Auschwitz“, heißt es am Ende des Berichts von Anna Anschel. Ab da habe sie nur noch Pakete schicken können. „Ende Oktober wurde mein Mann das letzte Mal in Auschwitz gesehen. Wöchentlich erhiler er 3 Lebensmittelpakete von mir. Nicht wurde zurückgeschickt.“ Noch bis Januar 1945 habe sie Pakete geschickt, „vor Weihnachten noch 2 Wertpakete mit warmen Sachen“. Dass Max Anschel da schon längst ins Konzentrationslager Stutthof deportiert worden war, wo er am 22.11.44 ums Leben kam, weiß seine Frau Anna im Sommer 1945 noch nicht, als sie diesen Bericht verfasste. Noch in dem am 1. Februar 1946 ausgefüllten Fragebogen gibt sie das „KZ Auschwitz“ als Todesort an. Versehen mit einem Fragezeichen.

Die Morddrohung und die geplünderte Wohnung

Und dann ist da noch der kurze Hinweis auf eine massive Bedrohung, der mich überhaupt erst zu den Akten des Diözesanarchivs geführt hatte. „Kurz vor dem Einmarsch der Roten Armee im Mai 1945“, schreibt Anna Anschel, „wurde ich von 4 Leuten gewarnt, dass ich als ‚Judenaas‘ erledigt werden soll und zwar durch P.G. Klatt, der meinen Mann durch sein Intrigen ins K.Z. beförderte. Das schlechte Gewissen dieses Mannes hatte nun auch noch die Absicht, sich von seiner Anklägerin zu befreien.“

Wer dieses P.G. Klatt war, bleibt unklar. Auch warum er gegen Max Anschel und seine Familie vorging, ist vorerst ein Rätsel. Dafür muss ich weitere Unterlagen finden, ich hoffe auf die Akten des Landesarchivs, deren Einsicht ich beantragt habe.

Anna Anschel gibt an, dass sie sich nach dem Hinweis mit ihrer Tochter bei guten Bekannten verborgen habe. Währenddessen sei ihre Wohnung aufgebrochen worden. „Über Nacht nun hat man die Türfüllung zertrümmert, um dadurch in die Wohnung zu gelangen. Ich traf geplünderte Schränke und Kästen an. Wäsche, Kleidungsstücke etc. waren entwendet. Das Kind und ich haben heute etwas zum Anziehen, Bettwäsche und Handtücher fehlen.“ Und dann fügt sie noch hinzu: „Besonders jammert mein Mädel um den Verlust ihrer Geige und der Noten.“

Der Riss in der Tür

Kaum bin ich aus dem Diözesanarchiv zurück, nehme ich alle Türen im Hausflur unter die Lupe. Das Haus ist eins der letzten unsanierten im Viertel. Die Anstriche im Treppenhaus sehen so aus, als könnten sie noch aus Vorkriegszeiten stammen. Eine zertrummerte Türfüllung könnte spuren hinterlassen haben. Aber auf den ersten Blick fällt mir nichts auf. Erst bei einem zweiten Blick fallen mir leichte Risse bei einer Wohnunsgtür auf, es ist die von meinem Nachbarn Wolfgang. Ich drehe an seiner Klingel, um zu fragen, ob er was weiß, ob man von innen vielleicht noch mehr sieht.

Aber Wolfgang weiß etwas anderes zu berichten. Der leichte Risse stamme garantiert nicht aus den letzten Kriegstagen, sondern irgendwann aus den 70ern. Da habe er mal den Schlüssel vergessen und dann …

Später schaue ich mir die Akten des Diözesanarchiv nochmal genauer an. Darin gibt Anna Anschel an, in einer 4-Zimmer-Wohnung zu wohnen. Für 78 Mark Miete. Wolfgang aber hat nur drei Zimmer. Nur die Wohnungen auf unserer Seite haben vier. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Anschels genau dort gelebt haben, wo ich jetzt sitze und schreibe, hat sich schlagartig verdoppelt.

Der Traum von Amerika

Im Frühjahr 1946 will Anna Anschel nur noch eins: weg von hier. Bei Punkt „Ausreise“ schreibt sie in den Fragebogen. „Herzlich gern, besonders meine 15 jährige Tochter, welche schon fleissig englisch lernt. Sie bleibt nicht in Deutschland, wo man sie beschimpft, mit Steinen beworfen u. In den Schmutz gestossen hat. Sogar von Frauen wurde sie vor den Geschäften beim Einkauf beschimpft. Auch vor unserer Wohnungstür hielt man Judenhetze: ‚Wir sollen nach Palästina usw.“

Als Angehörigen im Zielland benennt sie Walter Hasendahl, einen in Los Angeles lebenden Vetter. Hasendahl war der Mädchenname von Max Anschels Mutter. Allerdings gebe es keinen Kontakt zu ihm.

Warum aus dem Traum von Amerika nichts wurde, geht aus den Akten nicht hervor. Vielleicht lag es am Fehlen von Auswanderungspapieren, das im Fragebogen vermerkt ist. Vielleicht lag es am fehlenden Geld.

Aus den Ostberliner Adressbüchern geht hervor, dass Anna und Ruth Anschel noch bis Mitte der 60er Jahre in ihrer Wohnung an der Elisabethkirchstraße gewohnt haben.

Besonders gut scheint es ihr nicht ergangen zu sein. Aus den Notizen des katholischen Hilfswerks geht hervor, dass Anna Anschel „nervenkrank“ war, „verursacht durch fortgesetzte Aufregungen und Leiden, durch die Verhaftung meines Mannes und der nicht erfolgten Wiederkehr“.

Es gibt nur wenige weitere Unterlagen aus dem Bestand des katholischen Hilfswerks. In einer Notiz aus dem September 1947 wird vermerkt, dass Frau Anschel angerufen und mitgeteilt habe, dass sie nach Liebenthal zur Erholung fahre. Frau Dr. Sommer habe versprochen sich derweil um die damals 16-jährige Tochter Ruth zu kümmern.

Die kommt auf Einladung schließlich ins Hilfswerk, aber möchte dort offenbar keine Hilfe annehmen. „Sie mag nicht anderswo essen gehen“, heißt es in einer handschriftlichen Notiz, mit der die Akten enden. Die Mutter habe gut vorgesorgt und sie koche sehr gern für sich.

Der Brief von Trudel

Zuvor aber findet sich noch die Abschrift eines Briefes an die „Liebe Anne und Ruth!“ vom 15. Oktober 1945. Unterzeichnet ist er nur mit „Deine Trudel“:

Liebe Anna, wir leben alle noch haben alles überstanden. Am 1. April sind die Amerikaner bei uns einmarschiert, mittag um 1 Uhr. Es war eine Zeit, die man nie wieder vergessen kann. Karl und Lieschen ihr Mann sind zu Hause.“

Dann berichtet sie über die neue Lage vor Ort. „Hier bei uns ist die Grenze: Wir sind amerikanisch. Meine Eltern russisch. Schwierig ist es überhin zu kommen.“ Der Brief stammt aus Archfeld, einer kleine Gemeinde in Hessen, keine zwei Kilometer von der Landesgrenze nach Thüringen, der Grenze, an der dann bis 1989 in Folge des Krieges die Grenzanlagen der DDR standen.

Wir waren auch 4 Tage nicht in unserem Haus, da waren die Amerikaner drin“, schreibt Trudel weiter. „Ein Korb von dir haben sie aufgemacht. Es lag alles darum. Der grosse Korb ist zugeblieben.“ Offenbar waren Trudel und Anna Freundinnen oder Verwandte, jedenfalls standen sie sich so nah, dass Anna Anschel Sachen in Archfeld untergestellt hatte.

Mein lieber Mann, der ist noch nicht da. (…) Wo mag er wohl sein? Durch einen Kameraden habe ich erfahren, dass sie zuletzt bei Frabkfurt/Oder gekämpft hat, also beim Russen“, schreibt Trudel. Es könnte sich um die große Schlacht bei den Seelower Höhen handeln, bei der Mitte April 1945 innerhalb weniger Tage insgesamt rund 100.000 Soldaten ums Leben gekommen sind. „Ob wohl Ernst in Frankfurt/Oder im Lager ist? Wenn ich das nur mal wüsste.“

Und dann fragt Trudel auch nach Max. „Ist dein Mann da? Der müsste aber schon längst da sein. Ja ja“.

Max Anschel war da schon fast ein Jahr lang tot.

Am 9. November 2023 habe ich eine Tafel vor unser Haus gestellt, um an Max Anschel zu erinnern. Zwar ist die Verlegung von Stolpersteinen, die an die Familie erinnern sollen, längst beantragt. Aber bis sie verlegt werden, kann es Jahre dauern. Wegen der Tafel vor dem Haus meldete sich bei mir die Historikerin Alejandra Ciro, eine Kolumbianerin, die seit Jahren bei uns im Kiez wohnt – und die Geschichte der Vertreibung und Ermordung vieler jüdischer Nachbarn recherchiert hat. Sie hat sie – bisher nur auf Spanisch – in einem langen Text für die kolumbianische Zeitung „El Espectador“ aufgeschrieben.

Ein dritter langer Text von mir, der sich vor allem mit Ruth, der Tochter von Anna und Max Anschel beschäftigen wird, ist in Arbeit. Und irgendwann wird aus all diesen Recherchen mal ein langes Stück für die taz werden.

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