Diese Geschichte beginnt mit einem Text. Ende Februar 2023 berichtete Sabine Seifert in der taz über Menschen, die sich in Berlin auf die Spuren einer jüdischen Familie begeben haben, die einst in dem Haus wohnten, in dem sie heute leben. Und sie erwähnt dabei auch das noch recht neue Internetprojekt „Mapping the Lifes“, in dem die einstigen Wohnorte von Verfolgten des Nazi-Regimes auf einem Stadtplan eingetragen sind.
Es gibt wenige Texte, die mich so nachhaltig beschäftigen wie dieser. Denn seit über 20 Jahren schon wohne ich in einem alten Mietshaus in Berlin-Mitte. Ich weiß seit vielen Jahren, dass es bis in die 30er Jahre einen jüdischen Eigentümer hatte, der aber nicht in Berlin, sondern in Amsterdam lebte.
Stolpersteine, die an einstige jüdische Anwohner:innen erinnern, liegen vor viele Häusern in unserem Kiez. Bei uns aber nicht. Es schien mir wahrscheinlich, dass auch in „meinem“ Haus Verfolgte gewohnt haben müssen. Schon vor Jahren hatte ich nach Ansatzpunkten dafür in alten Adressbrüchern gesucht, die man im Internet findet, aber ohne Ergebnis.
Ich hatte auch mal im Berliner Gedenkbuch gesucht, das man in der Bibliothek an der Breiten Straße einsehen kann. Darin sind die Berliner Opfer des Nationalsozialismus nach Namen geordnet. Mehr als 6.000 Menschen, ermordet. Es ist erdückend, darin zu lesen. Bei meiner Suche nach ehemaligen Bewohnern meines Hauses aber half mir das nicht weiter.
Nun aber stehen bei „Mapping the Lifes“ fünf Namen vor meinen Augen. Fünf Menschen, die einst dort lebten, wo ich jetzt zuhause bin.
Max Anschel.
Seine Frau Anna.
Ihre Tochter Ruth.
Dazu noch Heinz Hans Geissler
und Erwin Thiel.
Zu den beiden letzten lässt sich per Schnellrecherche im Netz wenig finden. Zur Familie Anschel umso mehr.
Max Anschel wurde am 28.4.1888 in Schermbeck am Niederrhein geboren. Wann er nach Berlin kam, bleibt unklar. Alle seine vier Großeltern waren Juden, das geht aus den Nazi-Akten hevor, die Mapping the Lifes verarbeitet hat. Seine Frau Anna kam am 10. Januar 1901 in Berlin zur Welt, die gemeinsame Tochter Ruth am 5. Januar 1931. Anna Anschel hatte keine jüdischen Großeltern. „Verfolgungsgrund: kollektiv“ heißt es auf „Mapping the Lifes“. Sie wurde also bedrängt, weil sie mit einem Juden verheiratet war.
„Gestorben an den Folgen der NS-Verfolgung“
Was aus ihr und ihrer Tochter wurde, lässt die Datenbank offen. Bei Max Anschel aber gibt es keinen Zweifel. „Gestorben an den Folgen der NS-Verfolgung“, heißt es auf Mapping the Lifes, am 22. November 1944. Und dass er zu einem unbekannten Zeitpunkt nach Auschwitz deportiert worden war.
„Mapping the Life“ hat bei ihm auch noch das „Gedenkbuch für die Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 – 1945“ verlinkt, das das Bundesarchiv online gestellt hat. Dort finde ich den Todesort von Max Anschel: das Konzentrationslager Stutthof.
Einmal angefixt von der Geschichte braucht es nur ein paar Klicks, bis ich im Netz noch mehr über Max Anschel gefunden habe. Auf den Seiten des United States Holocaust Memorial Museums gibt es einen Datenbank mit Namen von Opfern und Überlebenden des Holocaust. Dort kann man auch Dokumente zu ihnen anfordern. Wenige Stunden später habe ich sie per Mail vorliegen: darunter seine „Todesbescheinigung“, unterschrieben vom Lagerarzt des KZ-Stutthof, einem „SS-Obersturmführer“ mit unleserlicher Unterschrift, der angibt, dass Max Israel Anschel am 22.11.44 um 12.30 Uhr an „Herzmuskelschwäche“ gestorben sei.
Dazu die „Häftlings-Personal-Karte“ des KZ, aus der hervorgeht, dass Max Anschel am 28. Oktober 1944 von Auschwitz nach Stutthof gebracht wurde. Dass er ein Kind hat. Und dass seine Ehefrau Anna immer noch unter der alten Adresse wohnt: Es ist das Haus, in dem ich heute lebe.
Es wird unübersehbar: Ich habe eine Aufgabe.
Es trifft mich. Wenn all dies offenbar seit vielen Jahren bekannt ist, warum liegt dann noch kein Stolperstein vor dem Haus?
Tatsächlich gibt es bereits einen Stolperstein in Berlin, der an Max Anschel, geboren 1888 erinnert. Er liegt am heutigen Platz der Vereinten Nationen. Aber es ist offenbar nur ein Namensvetter, der ein paar Monate später am 10. November 1888 in Rogasen geboren wurde. Wie ich aus alten Adressbüchern erfahre, war er offenbar Schuhmacher. Er wurde 1943 ebenfalls nach Auschwitz deportiert und kam dort ums Leben. Genau wie seine Frau und sein Sohn. Der Max Anschel, der in meinem Haus wohnte, aber ist offenbar vergessen.
Es wird unübersehbar: Ich habe eine Aufgabe. Erinnern an Max Anschel und seine Familie.
Als erstes wende ich mich an die lokal Zuständige für die Verlegung von Stolpersteinen. Sie schreibt mir, dass es das Ziel sei, bei der Verlegung der Steine auch außeinandergerissene Familien wieder zusammenzubringen. Wenigstens symbolisch.
Also: Wer waren die Anschels? Was wurde aus ihnen? Und warum?
Die Suche in den Adressbüchern
Die historischen Adressbücher Berlins sind ein faszinierendes Dokument. Man findet sie auf den Seiten der Landesbibliothek, sie bieten einen Rückblick bis ins 18. Jahrhundert. Sie sind als PDF einsehbar und lassen sich nach Schlagworten durchsuchen. In vielen aus der Zeit vor 1945 findet man die Bewohner:innen der Stadt zudem nach Adressen sortiert. Neben den Namen steht zudem häufig auch noch der Beruf. Daher weiß ich schon seit Jahren, dass zum Beispiel im Jahr 1933 in meinem Haus ein Postschaffner, ein Fleischermeister, ein Kaufmann, ein Lagerverwalter, eine Spritzerin, ein Bäcker und drei Witwen als Haushaltsvorstände lebten. Und dass der jüdische Eigentümer schon damals in Holland lebte, also nicht erst vor den Nazis geflohen war.
Nur nach meiner Suche nach eventuellen Opfern des Nationalsozialismus hatte mir diese Datenbank nicht weiter geholfen. Bis jetzt. Doch wenn man weiß, was man finden will, stößt man auf ganze Lebenläufe. Oder zumindest auf Fragmente davon.
Die Anschels tauchen in den Berliner Adressbüchern im Jahr 1932 auf. Da wird ein Max Anschel in der Bergstraße 17 aufgeführt mit dem Zusatz „Biergebäck“. Das Haus liegt wenige hundert Meter von seiner späteren, letzten Adresse entfernt. Anhand der Berufsangabe lässt sich aber erkennen, dass es sich um „meinen“ Max Anschel handelt. Denn auch nach dem Umzug bleibt der Geschäftsbereich, wenn auch mit stetig sich leicht ändernden Bezeichnungen. 1933 wird Max Anschel als „Weinbäckvertrieb“ genannt. 1935 gibt es in der Bergstraße 17 eine „Backwarengroßhandlung“ – allerdings nicht mehr unter Max Anschel, sondern unter dem Namen seiner Frau Anna, die im Branchenverzeichnis nun auch unter „Bäcker“ gelistet ist.
Spätestens 1938 sind sie an ihre neue Adresse gezogen, in das Haus, in dem ich heute wohne. Anna Anschel wird nun mit dem Zusatz „Gebäck“ erwähnt. Ein Jahr später heißt es, sie habe dort eine „Konfitürengroßhandlung“. Ihr Mann Max wird unter der gleichen Adresse als „Kaufmann“ geführt. 1940 ist Max aus dem Adressbuch verschwunden, nur noch Anna taucht unter der Adresse auf. 1942 ist auch Anna nicht mehr zu finden.
Auch 1943, dem letzten vorhandenen Adressbuch aus den Kriegszeiten, gibt es keinen Eintrag zu der Familie – aber ein anderes Detail gibt einen Hinweis auf die Nazi-Diktatur. Als Eigentümer des Hauses taucht anders als in den Vorjahren nicht mehr der in Amsterdam lebende Kaufmann Steinberger auf. Offenbar wurden die jüdischen Besitzer enteignet. Ihre dann in New York lebenden Erben bekamen das Haus erst um das Jahr 2000 herum zurückübertragen.
Von der Familien Anschel verliert sich zunächst jede Spur. Erst im Ostberliner Telefonbuch des Jahres 1961 taucht sie wieder auf. Die mittlerweile erwachsene Tochter Ruth ist jetzt als „Dr. med“ verzeichnet – unter der alten Adresse ihrer Eltern. Sie bleibt dort bis mindestens 1967 wohnen. Anfang der 70er Jahre zieht sie in einen der neuen Plattenbauten in der Berolinastraße hinter dem Kino International, wo sie jahrzehntelang wohnen bleibt – auch nach dem Mauerfall. Geheiratet hat sie offenbar nie.
Kurz hatte ich die Hoffnung, mit Ruth Anschel noch reden zu können. Sie wäre heute knapp über 90 Jahre alt. Aber eine Anfrage ans Einwohnermeldeamt ergibt: sie ist bereits im Jahr 2000 gestorben. Auch ihre Mutter, erfahre ich so, hat den Nationalsozialismus überlebt. Sie starb 1992 im Alter von 91 Jahren.
Das Haus, in dem ich wohne
Das Haus, in dem ich seit über 20 Jahren wohne, ist unscheinbar. Ein Mietshaus mit acht Wohnungen. Kein Gewerbe. Keine Erker, keine Balkone, kein Stuck. Wie bei fast allen Häuser in der Rosenthaler Vorstadt hat sich auch hier die Bewohnerschaft radikal geändert seit dem Mauerfall. Mehrere Familien zogen fort, weil es ihnen mit den Kindern zu eng geworden war. Und weil sie sich eine größere Wohnung im Kiez, der einst die Vorstadt der Armen war, nicht mehr leisten können.
Einst lebte hier ein Karikaturist. Nach einer Vernissage mit seinen Arbeiten saß die Creme der deutsche Zeichnerszene kurz bei uns im Wohnzimmer, weil der Gastgeber gerade seinen Schlüssel nicht fand und wir die Leute nicht vor der Tür stehen lassen wollten. Ein Restaurantbetreiber, der hier wohnte, starb nach heftigen Drogenproblemen. Länger als ich wohnt heute eigentlich nur Wolfgang hier. Der dafür aber eigentlich schon immer. Er zog als junger Mann in den 70er Jahren ein. Ein Metzger, der allein seinen Sohn groß zog. Heute ist er längst Rentner.
Hat er vielleicht die Anschels noch in unserem Haus erlebt? Ich drehe an der alten Klingel an seiner Wohnungstür. Er kommt auf Krücken an. Anschel?, fragt er. Da habe es doch dieses Ehepaar unter ihm gegeben, meint er. Aber Ehepaar, das kann ja nicht sein. Der Mann, Max Anschel, war ja schon seit 1944 tot. Und Juden? Nein, das sagt ihm gar nichts. Dafür erzählt er noch jede Menge anderer Geschichten, von quietschenden Betten in diesem hellhörigen Haus, von Nachbarn, die er „gefressen hatte“, von den vielen Kindern, die immer hier gelebt hätten. Und von dem Zeichner, der ihm noch heute jedes Jahr einen Kalender schicke. Nur bei meiner Suche kann er mir nicht weiterhelfen.
Aber vielleicht die WBM? Zu DDR-Zeiten wurde das Haus von der kommunalen Wohnungsverwaltung geführt, aus der nach der Wende die Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) hervorging. Von der hatte ich 1999 noch meinen Mietvetrag bekommen – kurz bevor das Haus an die Alteigentümer übertragen wurde. Ob die WBM vielleicht noch das alte Hausbuch hat, in dem zu DDR-Zeiten alle Bewohner akribisch gelistet wurden? Ich frage bei der Pressestelle an. Aber auch sie kann mir nicht weiterhelfen.
Schermbeck an der Lippe
In Schermbeck war ich noch nie. Ich hatte bisher nicht einmal gewusst, dass ein Ort mit diesem Namen existiert. In der Gemeinde im Kreis Wesel nahe der holländischen Grenze leben heute rund 13.000 Menschen. Hier wurde Max Anschel 1888 geboren. Mindestens seit Mitte des 17. Jahunderts gab es dort eine kleine jüdische Gemeinde. Laut Wikipedia stellte sie um 1855 rund 10 Prozent aller Einwohner.
Im Netz stoße ich auf einen Bericht über eine Aktion der dortigen Gesamtschule. Die Schüler:innen hatten 2017 in einem Projekt zur jüdischen Geschichte des Ortes geforscht und am Jahrestag der Reichsprogramnacht daran erinnert. „Hanna Wegner, Alicia Theis und Joline Rosendahl erinnerten an Mitglieder der jüdischen Familien Anschel, Schönbach, Marchand, Adelsheimer, Hoffmann und Sternberg“, heißt es in dem Text, in dem auch die Geschichtslehrerin genannt wird, die das Projekt geleitet hat. Wissen die Schüler:innen mehr über die Familie Anschel und über Max? Ich maile die Schule an – und bekomme Antwort von ganz anderer Stelle.
Andrea Kammeier-Nebel, die lange zur Geschichte der jüdischen Gemeinde in Schermbeck geforscht hat, hat meine Anfrage von der Geschichtslehrerin weitergeleitet bekommen. Sie schreibt mir, dass Max Anschel in den Schermbecker Quellen leider nicht erwähnt werde. Das heißt aber nicht, dass er dort nicht zur Welt kam.
Die Informationen über die jüdischen Familien in Schermbeck in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, schreibt Kammeier-Nebel, basieren weitgehend auf den preußischen Volkszählungen. Standesamtliche Unterlagen sind nicht erhalten. Die Volkszählungen führen die Familien pro Haus mit bürgerlichem Namen, Geburtsdatum, Stand und Beruf auf.
Aufgrund der ihr vorliegenden Akten mutmaßt sie, dass Albert Anschel (*4.9.1851) sein Vater war, seine Frau Laura, geborene Hasendahl (*26.1.1850 in Wesseling) seine Mutter. In der Volkszählung von 1885 wird ein Sohn mit Namen Adolf Anschel (*31.8.1885) aufgeführt. Das Paar sei zwischen 1890 und 1895 aus Schermbeck fortgezogen, vermutlich nach Krefeld.
Laura Anschel sei 1912 in Krefeld beerdigt worden. Ein Ingenieur namens Adolf Anschel sei im Krefelder Adressbuch 1931/32 verzeichnet. Er wurde 1938 inhaftiert und war vom 17. November bis 1. Dezember 1938 im Konzentrationslager Dachau. Am 26. April 1939 emigrierte er nach Belgien und wurde in Le Vigeant am 10. Mai 1940 interniert. Am 10. August 1942 wurde er nach Ausschwitz deportiert.
Kammeier-Nebel rät mir, beim Stadtarchiv Krefeld nachzuforschen. Von der dortigen NS-Dokumentationsstelle antwortet mir Fabian Schmitz: „In unserer Datenbank ist nur das Ehepaar Adolf und Erna mit dem Sohn Günter (geb. 1924 in Bremen, ermordet 1943 vermutlich in Auschwitz) verzeichnet. Informationen zu Eltern und Geschwister der beiden Eheleute fehlen leider“. Aber Geburtsort und –tag von Adolf Anschel stimmen. Er war offensichtlich der Bruder von Max. „Er wurde in Schermbeck geboren, war Ingenieur und Inhaber eines Photogeschäftes.“
Schmitz weiß noch mehr über den Leidensweg von Adolf Anschel und seiner Familie: Er „wurde vermutlich im Rahmen der Novemberpogrome in „Schutzhaft“ genommen und vom 17. November bis zum 1. Dezember in Dachau festgehalten, bis er zwecks „Arisierung“ seines Vermögens und Auswanderung entlassen wurde. Im April 1939 floh die Familie nach Belgien. Adolf wurde 1942 von Drancy, Frankreich, aus nach Auschwitz deportiert, wo er vermutlich am 10. August 1943 ermordet wurde. Erna wurde am 31. Juli 1943 ab Mechelen, Belgien, nach Auschwitz deportiert und dort vermutlich bei Ankunft ermordet. Günter wurde am 7. Oktober 1943 von Drancy aus nach Auschwitz deportiert. Auch er wurde vermutlich bei Ankunft ermordet.“
In der Zeit, in der Max Anschel geboren wurde, kamen noch weitere Kinder mit dem Nachnamen Anschel in Schermbeck auf die Welt.
Zum Beispiel Hedwig Anschel, verheiratete Frankfort, geboren am 3. April 1897. Ermordet in Auschwitz am 29. Oktober 1942. Am gleichen Tag wie ihr Mann Joseph, ein Metzger aus Deventer, und ihre Tochter Brunetta. Ihr Sohn Emanuel starb am 28. Februar 1943, ebenfalls in Auschwitz.
Oder Hedwig Anschel, verheiratete Snatager, geborene am 14. Dezember 1889. Ermordet in Auschwitz am 27. November 1942. Von ihrefindet man auf der holländischen Seite www.joodsmonument.nl sogar ein Foto.
Je tiefer man einsteigt in die Geschichte, desto mehr offenbart sich das Grauen.
KZ Stutthof – „das schlimmste Lager“
Das Konzentrationslager Stutthof liegt unweit der Stadt Danzig im heutigen Polen. Hier kam Max Anschel am 22.11.44 ums Leben.
Die Geschichte des KZ wurde im vergangenen Jahr der deutschen Öffentlichkeit nochmal bekannt, weil sich eine einstige, heute 97 Jahre alte Sekretärin vor Gericht verantworten musste. Sie wurde im Dezember 2022 wegen „Beihilfe zum Mord in über 10.000 Fällen“ schuldig gesprochen.
Den Prozess hatte mein taz-Kollege Klaus Hillenbrand begleitet, der sich seit vielen Jahren mit dem Holocaust, seinen Opfern, aber auch mit den Geschichten der Überlebenden befasst.
„Es war das schlimmste Lager“, zitierte Klaus in seiner Prozessreportage den Zeugen Josef Salomonovic. „Das Allerschlimmste war der Hunger und die Kälte.“ Salomovic war als kleiner Junge mit seinen Eltern in dem KZ gelandet.
„Der Zeuge berichtet, dass er im Lager einzig einen Löffel besessen habe. Einmal habe es Karotten gegeben, offenbar aus einer Hilfslieferung aus Norwegen. Die Mutter teilte die Karotte mit dem Löffel in zwei Hälften und schob ihm seinen Anteil in den Mund. Josef Salomonovic hält ein Foto in die Höhe, es zeigt einen mittelalten Mann. Es ist sein Vater. An einem Tag, möglicherweise am 17. September 1944, war er in die Krankenstation gelockt worden. Dort erhielt er eine tödliche Phenolspritze ins Herz“, heißt es weiter in der Prozessreportage.
Das war im Herbst 1944 eine vielfach genutzte Tötungsart in dem KZ. Auf dem Totenschein von Max Anschel steht, er sei an „Herzmuskelschwäche“ gestorben. Kann das eine perfide Umschreibung für seine Ermordung sein?
Ich frage Klaus. Eine Antwort hat er nicht. Aber er leiht mir das Buch „The Extermination Of The Jews In Stutthof Concentration Camp“ von Danuta Drywa. Die polnische Historikerin schreibt in dem 2001 verfassten Buch sehr detailliert die Geschichte des Lager auf. Manchmal unerträglich detailliert. So unerträglich wie die Geschichte eben war. Das 1939 eingerichtete Camp war zunächst vor allem ein Arbeits- und Gefangenenlager. Dies habe sich in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 radikal geändert. Da wurden Juden zur dominanten Gruppe unter den Gefangenen. Und es entstand ein System des Terrors, das zu einem beispiellosen Genozid an ihnen führte. Es gab dort ab Juli 1944 Gaskammern und auch regelmäßige Erschießungen.
In dem auf Englisch verfassten Buch beschreibt Drywa aber auch das „Needling“, bei dem Menschen durch Phenolspritzen ins Herz getötet wurden, so wie der Vater von Josef Salomonovic. Es sei unmöglich, genau zu sagen, wie viele Menschen durch diese von Nazis „Sonderbehandlung“ genannte Tötungsmethode ermordet wurden. Denn auf den Totenscheinen sei diese nicht vermerkt worden. Stattdessen seien etwa „Herzkrankheiten“ oder „Tod durch plötzliche Kreislauf-Problem“ als Gründe angeben worden. Ähnlich also wie bei Max Anschel. Allerdings starb der erst Ende November 1944. Und das „Needling“ wurde laut Drywa nur von August bis Oktober angewandt.
Ab Oktober 1944, so Drywa weiter, grassierte in dem Lager eine Typhus-Epidemie, die vielen Gefangenen das Leben kostete – auch weil ihnen jede Behandlung verwehrt wurde. Der Epidemie seien phasenweise täglich 2,5 Prozent der KZ-Insassen erlegen. Ende Dezember erging ein Sonderbefehl, dass das Lager vollkommen isoliert werden musste, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern. Aber da war Max Anschel schon mehrere Wochen tot.
Der letzte Transport – vier Tage und ein halbes Brot
Er war am 28. Oktober 1944 mit einem Transport aus dem Konzentrationslager aus Auschwitz gebracht worden. Aus Drywas Buch erfahre ich, dass dies der letzte solcher Transporte war. Die Nazis holten ihre Häfltlinge aus Auschwitz raus, weil sich von Osten her die Front näherte, die Rote Armee.
Dieser letzte Transport brachte rund 1.500 jüdische Bürger aus Ungarn, Polen, Deutschland, Jugoslawien, Frankreich, Holland, Italien, Griechenland, Rumänien, Belgien, Lichtenstein, Bulgarien, Türkei und Norwegen nach Stutthof. Allein die Liste der Herkunftsländer lässt die wahnsinnige Gründlichkeit des Nazi-Regimes erkennen.
Drywa zitiert in ihrem Buch den ungarischen Juden Arpad Stern, einen der ganz wenigen, der diese Nazi-Zeit überlebt hat: „Wir reisten in Güterwagen zusammengepfercht auf eine Art, wie es sonst unvorstellbar gewesen wäre. Unsere tägliche Essensration bestand aus einem halben Brot und etwas Soße“. Der Transport habe vier Tage gedauert. Unterwegs habe es hunderte Opfer gegeben, die meisten aufgrund von Durchfall. „Es war Nacht, als wir ankamen in einem Zustand extremer Schwäche und Hunger.“
Polinnen, die selber noch nicht lange in Stutthof inhaftiert waren, haben die Ankunft des Transports beobachtet. Drywa zitiert diese Augenzeuginnen: „Sie zogen vorbei, endlos, erschöpft, mit schwarzen Gesichtern, mit Haarstoppeln, die aus der Haut ragten. Sie starrten aus ihren großen, schwarzen Augen mit einem etwas unmenschlichen Ausdruck. Sie hatten keine Pullover, keine Jacken an, nur zerrissene Sommerkleider. Schwarzer Körper schienen durch deren Löcher. Sie hatten keine Hemden, sie waren dünn, mit spitzen Schultern und konkaver Brust – sie glichen unheimlich hässlichen Vögeln.“
Max Anschel muss einer von ihnen gewesen sein.
Aber was soll ich auf seinen Stolperstein schreiben lassen: „Gestorben in Stutthof“? Oder „Ermordet in Stutthof?“ In der Liste der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem wird Max Anschel als „murdered“ aufgeführt. Mir fehlt dazu ein Beleg.
Der taz-Experte Klaus gibt mir die Mailadresse von Danuta Drywa. Sie ist heute Leiterin einer Gedenkstätte in Stutthof und antwortet mir binnen weniger Stunden.
Die Parole zum Aufstand
Sie schickt mir zum einen Auszüge aus den Erinnerungen von Mordechai Ciechanower. Er hat in seinem Buch “Der Dachdecker von Auschwitz-Birkenau” auch von seinem Transport von Auschwitz nach Stutthoff berichtet. Die Häftlinge im Zug hätten zunächst vermutet, dass sie nun nach Treblinka gebracht würden – ein Vernichtunsglager. Weil sie nichts mehr zu verlieren hatten, hätten sie eine Parole vereinbart. “Wenn das Zeichen gegeben worden wäre, hätte eine Häftlingsgruppe in dem Wagon den SS-Mann überfallen, um danach die Türen aufzubrechen und hinauszuspringen. Wem es dabei gelungen wäre zu überleben, der hätte überlebt, und die anderen eben nicht”, schreibt Ciechanower.
Doch dann hätten sie festgestellt, dass der Zug nicht nach Osten, sondern nach Norden fuhr. Kurz wuchs die Hoffnung. Angekommen in Stutthof aber erkannten sie, dass alles aussah wie in Auschwitz. „Der Zug hielt an einer Rampe in einem Lager, das von weitem wie ein Kopie des uns bekannten verfluchten Ortes aussah“. Zwar sei wenig später die systematische Vernichtung der Juden eingestellt worden. Aber das habe nicht bedeutet, dass die SS-Männer nicht weiter die Häftlinge misshandelten. Auch sei der chronische Hunger zurückgekehrt.
Max Anschel, schreibt mir Danuta Drywa, habe in Baracke 13 gewohnt, zusammen mit den dänischen Gefangenen. Sie glaubt, er sei in einem sehr schlechten körperlichen Zustand gewesen, weil er schon drei Wochen nach seiner Ankunft in Stutthof starb. Zudem war er ja zuvor schon in Auschwitz, wie lange, ist unbekannt. Er wurde 56 Jahre alt. Die jüdischen Häftlinge hatten keinen Anspruch auf Behandlung im Lagerkrankenhaus. Und dann schreibt Drywa den entscheidenden Satz. „Ich denke, dass wir es „ermordet in …“ nennen können.
Aber was ist mit der offiziellen Todesursache? Die offiziellen Angaben auf den Totenscheinen hätte variiert, meint Drywa, aber meistens stimmten sie nicht. Auch Klaus meint, „ermordet“ sei angemessen. „Ermordet durch die Umstände“.
Und dann nennt Danuta Drywa noch einen Namen, nach dem ich sie gefragt hatte. Die des Lagerarztes mit der unleserlichen Unterschrift auf dem Totenschein. Es ist Franz Lucas.
Der Lagerarzt Franz Lucas
Franz Lucas stammte aus Osnabrück, wo er 1911 geboren wurde Er war schon 1933 bei der SA, ab 1937 bei der NSDAP und der SS. Er war zunächst Truppenarzt, aber soll dann wegen „defätistischer Äußerungen“ versetzt worden sein. Ab Ende 1943 war er zunächst in Auschwitz, dann in Mauthausen, Stutthof, Ravensbrück und Sachsenhausen jeweils kurzzeitig Lagerarzt.
Nach dem Krieg tauchte er zunächst unter, entkam in den Westen und machte schließlich im Stadtkrankenhaus Elmshorn Karriere, wo er bis zu Chefarzt der Gynäkologischen Abteilung aufstieg.
Erst als 1963 seine Rolle während der NS-Zeit bekannt wurde, wurde er entlassen. Im ersten Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965 war Lucas angeklagt. Lange leugnete er seine Rolle, bis ein SS-Kollege aussagte, dass er Lucas gesehen habe, wie der an der Rampe in Auschwitz ankommende Menschen selektiert habe. „Fünftausend Mann, die hat er in einer halben Stunde ins Gas geschickt, und heute will er sich als Retter hinstellen“, wird er auf Wikipedia zitiert.
Lucas wurde 1965 wegen Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt. Er selbst hatte seine Beteiligung an der Selektion in Auschwitz am Ende gestanden, aber sich darauf berufen, nur unter Zwang gehandelt zu haben, als er sich nicht mehr davor drücken konnte.
1968 wurde er aus der Haft entlassen. 1969 ordnete der Bundesgerichtshof eine Revision an. 1970 wurde er freigesprochen – auch weil viele Häftling sich positiv über ihn geäußert hatten.
Der gute KZ-Arzt?
Tatsächlich finden sich in den Protokollen des Auschwitz-Prozesses Zeugen-Aussagen von einstigen KZ-Insass:innen, die Lucas für seinen Einsatz dankbar sind. So berichtete zum Beispiel die Zeugin Johanna Dyer, Lucas habe dafür gesorgt, dass sie im Februar 1945 aus dem KZ Ravensbrück entlassen wurde – gegen den Widerstand eines anderen KZ-Arztes.
Auch in einem längeren Text aus der Welt über „Die Legende vom guten KZ-Arzt“ wird berichtet, dass viele ehemalige Häftlinge Franz Lucas vor Gericht in Schutz nahmen. Allerdings ziehen in dem Artikel auch Wissenschaftler den angeblichen Befehlsnotstand des Lagerarztes in Zweifel: „Alle Nachforschungen haben keinen Fall ergeben, bei dem ein die Tötungsbefehle verweigernder Angehöriger der SS entsprechend belangt worden wäre. Man konnte sich der Teilnahme an Selektionen entziehen“, wird ein Forscher zitiert.
Schon deswegen wirkt ein Freispruch für Franz Lucas aus heutiger Sicht mehr als unangemessen. Eins wird klar: die Rechtsprechung in Deutschland der 60er und 70er Jahre war deutlich wohlwollender mit einstigen Nazi-Tätern als heutzutage.
Franz Lucas öffnete nach seiner Haftentlassung eine private Praxis. Er starb 1994 in Elmshorn.
Anna und Ruth Anschel
Über Anna, die Frau von Max Anschel, habe ich bisher sehr wenig herausgefunden. Auch von der Tochter Ruth weiß ich kaum etwas – nur dass sie offenbar Medizinerin war. In den Telefonbüchern von Ost-Berlin wird sie als „Dr. med.“ aufgeführt. Das bringt mich auf die Idee nach ihrer Doktorarbeit zu forschen. Tatsächlich findet sie sich im Archiv der Humboldt-Universität. Ruth Anschel hat 1956 über „Funktionelle und morphologische Nierenveränderung an Ratten bei fettreicher Kost“ geschrieben. Aber bei meinen Recherchen hilft mit das nicht.
Dafür bringt mich eine andere Doktorabeit auf eine neue Spur.
Am Abend als mich die Mail von Danuta Drywa erreicht, gebe ich nochmal ohne groß darüber nachzudenken den Namen „Anna Anschel“ in die Suchfunktion meines Handys ein. Und da ist ein Treffer, den ich vorher nicht hatte. Oder übersehen hatte.
In dem Buch „Privileg Mischehe?“ taucht ihr Name auf. Es ist die Dissertation von Maximilian Strnad, der mittlerweile für die Koordinierungsstelle Erinnerungszeichen für Opfer des NS-Regimes in München arbeitet. In seinem Buch schreibt er darüber, dass Juden, die mit Nichtjuden verheiratet waren, tatsächlich lange vor Deportationen geschützt waren. Er berichtet aber auch, dass sie trotzdem heftigen Diskriminierungen ausgesetzt waren. Viele Ehepaare hätten daher zum Beispiel versucht, die Betriebe des jüdischen Partners auf die nichtjüdischen Partner zu übertragen. Das könnte auch erklären, warum der Bäckereibetrieb in der Bergstraße laut Adressbüchern den Eigentümer wechselte. Von Max zu Anna.
Ein Mordversuch
Viel spannender aber ist dieser eine Satz in dem Buch. Auf Seite 357 heißt es: „Anna Anschel aus Berlin beschuldigte nach dem Krieg einen Funktionär der NSDAP, der für die Einweisung ihres Mannes in ein KZ verantwortlich war, er habe versucht, sie im Mai 1945 zu töten, um zu verhindern, dass sie ihn nach Kriegsende anzeigen könne“: Dies gehe, heißt es in der dazugehörigen Fußnote, aus einem Bericht von Anna und Ruth Anschel hervor, der im Diözesanarchiv Berlin zu finden sei.
Sofort schreibe ich Maximilian Strnad an und frage, ob er den Bericht vorliegen hat, ob er mehr weiß zur Geschichte „meiner“ Familie Anschel. Aber er weiß auch nicht mehr und rät mir „im Diözesanarchiv die entsprechende Akte einzusehen, ob Sie dort noch mehr finden.“ Die Anfrage ist raus. Auf Antwort warte ich noch.
Und noch eine weitere Akte will ich sehen. Laut einer Liste, die ich im Netz gefunden habe, soll es im Landesarchiv Berlin die „Versorgungsakten für Anna Anschel und Max Anschel“ geben. Ich habe bereits um Einsicht gebeten. Die ersten Antwort lautet zu meiner Überraschung, dass die Akten noch einer Sperrfrist unterliegen sollen. Das ist eigentlich nur bis 10 Jahre nach dem Tod der Betroffenen üblich.
Ich werde dran bleiben. Diese Geschichte ist noch nicht auserzählt.
Denn sie berührt mich. Sie ist mir nah, weil sie an dem Ort geschah, an dem ich wohne – mittlerweile viel länger als es Max Anschel durfte.
Nachtrag: Ein zweiter langer Text, der sich vor allem mit der Geschichte von Anna Anschel, aber auch mit der Rolle der Elisabeth-Kirche im Nationalsozialismus, der Fabrik-Aktion und vielem mehr beschäftigt, ist am 27. Januar 2024 hier erschienen.
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