Getötete Radfahrerinnen: Die Frau mit den Comics und die Krankenschwester

„Berlin, du bist so wunderbar“, schrieb Laet Beton am vergangenen Donnerstag um kurz nach 12 Uhr auf Facebook, setzte ein Herzchen dazu und postete einen dieser typsischen Berliner Zettel, die von „notes of berlin“ gesammelt werden. Es ging um „Hipster und Flachpappen“, die nachts mit ihrer Party auf einem Hinterhof für Unmut in der Nachbarschaft sorgten. So typisch Berlin halt.

Wenig später saß Laëtitia Graffart, wie Laet Beton wirklich hieß, auf ihrem Rad und fuhr die Frankfurter Allee Richtung Alexanderplatz. Erst auf dem alten Radweg, der den Bürgersteig so eng macht, dann am U-Bahnhof Samariterstraße schwenkte sie auf den ein Jahr alten Pop-Up-Radweg auf der Fahrbahn. Weil dort illegal ein Geldtransporter parkte, wich sie auf die mittlere Spur aus und wurde von einem Sattelschlepper überrollt. Sie wurde 37 Jahre alt. 

Einen Tag später starb Cindy B.. Die 38-Jährige war zwei Wochen zuvor auf der Greifswalder Straße, ebenfalls Richtung Alexanderplatz gefahren. An der Kreuzung mit der Straße Prenzlauer Berg wurde sie von einem rechtsabbiegenden Betonmischer überfahren. Nach zwei Wochen in der Klinik erlag sie ihren schweren Verletzungen.

Laëtitia Graffart und Cindy B. sind die dritte und vierte Radfahrer:in, die dieses Jahr in Berlin tödlich verletzt wurden. Die Namen der beiden sind bekannt, weil sie von Freunden und Verwandten veröffentlich wurden – im Wunsch, dass an die Frauen erinnert wird.

Was aber weiß man über die beiden  – ohne dass man die Hinterbliebenen belästigen muss, allein durch ihre Veröffentlichungen in sozialen Medien?

Über Cindy B. erfährt man nicht viel. Nur dass sie Krankenschwester an der Charité war. Ihre Schwester hat auf Twitter Radaktivist:innen darum gebeten, eine Gedenkveranstaltung für sie zu organisieren. Sie findet am heutigen Montag um 17.30 Uhr am Unfallort statt. Der ADFC wird auch hier ein weiß gestrichenes Fahrrad aufstellen.

Laëtitia Graffart war in vielem eine typische Berlinerin. Aufgewachsen in Arles, der Stadt van Goghs, wie Graffart 2016 in einem Podcast der Comicinvasion erzählte, kam sie 2012 für ein Praktikum nach Berlin – und ist gleich geblieben, weil es ihr hier so gut gefiel. So wie man das halt macht in Berlin.

Die Französin war Redakteurin, Korrektorin, Übersetzerin – ihre Leidenschaft aber galt seit frühester Jugend den Comics. Und so versuchte sie in der Berliner Comicszene einen Platz zu finden.

Nach einem deutsch-französischen Workshop, den der Berliner Comiczeichner Mawil in Leipzig angeboten hatte, kam sie auf die Idee ein deutsch-französisches Comicmagazin herauszubringen. Es hieß „Beton“ oder auch „Béton“, der Titel hat den Vorteil, dass er in beiden Sprachen verstanden werden kann. Das Heft erschien seit Januar 2015 vierteljährlich bis mindestens 2018.

Graffart selbst zeichnete selten, sie organsierte lieber, war Herausgeberin. Und sie verkaufte auch Comics. Drei Jahre lang war sie Leiterin des Comicladens Modern Graphics an der Kastanienallee in Prenzlauer Berg. Ein Kollege von dort war es auch, der ihren Namen am Sonntag auf Facebook veröffenlichte. „Sie war ein Energiebündel, eine tolle Mitarbeiterin und eine Freundin“, schrieb er dazu.

Ihre Energie setzte sie zuletzt auch als Musikerin ein. Zusammen mit Magali Dhyvert aka Diane Electro gründete sie das Duo Späti Smith. Im März 2020 hatten sie die erste EP „Und nun?“ bei bandcamp veröffentlicht.

„Killers killers in my street // Killers killers want to hit“, beginnt der Text des ersten der vier Songs. Man hört es jetzt mit einem Schlucken, aber es ging nicht um die Lage im Berliner Verkehr, es ist ein Anti-Polizei-Punksong, ordentlich hingerotzt, er spart sich nicht mal den allgegenwärtigen Demoslogan „Ganz Berlin hasst die Polizei“.

„Perfekter Riot-Grrrl-Sound“, nannte das das queere Onlinemagazin pink.life in einer Kurzrezension. Das sei „roher Punk mit Berlin-Flair“ von zwei Frauen, die mit Kraft und Humor im kapitalistischen Dschungel überleben wollten.

Ihr letzter Song „Späti bleibt“ ist eine Hyme an den Namensgeber der Band. Und er endet mit einer klaren Parole: „We want chips ! we want Sterni !“

„Späti Smith – tournée annulée – RIPUNK mon p’tit ange viking de Berlin 💔„, schrieb Diane Electro am Sonntag auf Facebook. „Tournee abgesagt, Rest In Punk mein kleiner Berliner Wikingerengel.“

Die Unfälle von Laëtitia Graffart und Cindy B. sind die brutalen Klassiker und Folge einer verfehlten Verkehrspoltitik, die von Aktivist:innen seit Jahren kritisiert wird. LKW, die allein durch ihr Gewicht eine tödliche Gefahr für Radler:innen sind, dürfen bis heute ungestört durch die Stadt fahren, obwohl es den Fahrer:innen meist unmöglich ist, den gesamten Verkehr zu überblicken. Meist enden solche Kollisionen tödlich. Wer sie überlebt, wird sein Leben lang gezeichnet sein. Körperlich und seelisch.

Beide Unfälle zeigen auch, dass die aktuelle Verkehrspolitik bei weitem nicht ausreicht. Beide passierten auf gut markierten Fahrradspuren, sie zeigen, dass diese Radwege auf Straßen aber keineswegs Sicherheit bieten. Im Gegenteil, sie wiegen ihre Nutzer:innen sogar in trügerischer Sicherheit. Ohne eine längst überfällige bauliche Trennung von Auto- und Radverkehr wird es weitere Tote geben.

„Berlin, du bist so wunderbar“, schrieb Laëtitia Graffart am vergangenen Mittwoch, eine dreiviertel Stunde vor ihrem Tod.

„Berlin, tu es une salope. Tu m’as volé ma fille !“, hat eine Frau darunter geschrieben. „Berlin, du bist eine Schlampe. Du hast mir mein Mädchen gestohlen!“

Nachtrag vom 3.6.: Für die Beerdigung von Laetitia Graffart wird mittlerweile Geld gesammelt. Auch damit ihre Familie aus Frankreich anreisen kann. Mehr Infos gibt es hier.

Nachtrag vom 20.7.: Der Tagesspiegel hat mittlerweile einen ausführlichen Nachruf auch auf die getötete Krankenschwester Cindy Bohnwagner veröffentlicht.

 

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